Freitag, 22. Dezember 2017

Nur ein neues (altes) Wahlrecht wird Deutschland vor dem Schicksal eines "failed State" bewahren.

Broschüre der SPD von 1910
Jetzt verhandeln sie wieder. Diesmal in der Variante Schwarz-Rot. Die letzten Verhandlungen über die Gründung einer schwarz-gelb-grünen Koalition sind geplatzt. Was mich wundert, ist, daß sich jemand darüber wundert. Gerade hat sich die FDP dazu durchgerungen, aus der linksliberalen Sackgasse herauszukriechen, da mutet man ihr zu, mit einer (schwarzgrünen) Partei zu koalieren, deren fanatischer Egalitarismus den geistigen Abgrund von Multikulti und Gender-Gaga erreicht hat.

Das womöglich irrste Wahlrecht der Welt hat an einer Situation, wo es nicht gelingen will, eine vernünftige Regierungskoalition zu schmieden, einen erheblichen Anteil.

Zwei Zahlen sollten genügen, um den Wahnwitz unseres über fast 70 lange Jahre immer wieder verschlimmbesserten Wahlrechts zu illustrieren. Nach dem Bundestagswahlgesetz von 1949 sollten in 242 Wahlkreisen Direktkandidaten gewählt werden, 158 weitere Bundestagsmandate sollten nach Listen gewählt werden. Insgesamt hatte der Bundestag 400 Sitze, es wurden wegen des "personalisierten Verhältniswahlrechts", bei dem es zu Überhangmandanten kommen kann, 402 Parlamentarier. 2017 wurden in 299 Wahlkreise ebensoviele Direktkandidaten gewählt, durch den vollständigen Ausgleich der Überhangmandate blies sich das Parlament auf 709 Bundestagsmitglieder auf. Standen 1949 242 direkt gewählten Parlamentariern 160 über Landeslisten gewählte Parlamentarier gegenüber, waren es 2017 299 direkt und 410 über Parteilisten indirekt gewählte MdBs.

Der Parteienstaat triumphiert.

Wie aber ist es dazu gekommen? Das Kaiserreich ist mit einem dem romanischen Mehrheitswahlrecht ähnlichen Wahlrecht gut gefahren. Bei diesem Wahlrecht war zunächst im Ersten Wahlgang der Kandidat gewählt, der die absolute Mehrheit der Stimmen erreichte. Erreichte kein Kandidat die absolute Mehrheit, fand zwischen den beiden erfolgreichsten Kandidaten eine Stichwahl statt. Das zwang die Parteien, sich zu Wahlbündnissen zusammenzutun und führte zu einer homogeneren Zusammensetzung des Reichstags. Das Wahlrecht führte zwar zu Verzerrungen, dennoch hatten auch kleine, regional einflußreiche Parteien eine Chance. Im letzten Reichstag des Kaiserreichs waren 13 Parteien vertreten, mehr als doppelt so viele als im heutigen Bundestag. Zwar wichen Wähleranteil und Sitzanteil voneinander ab, aber weit weniger krass als mit unserer heutigen 5%-Klausel, die im schlimmsten Fall dazu führt, daß deutlich mehr als 10% der Wählerstimmen unberücksichtigt bleiben.

Die Republikaner, die die Weimarer Republik beherrschten, insbesondere Linksliberale, Christdemokraten (Zentrum) und Sozialdemokraten wollte es anders. Die Weimarer Republik führte ein radikales Verhältniswahlrecht ein. Anders als immer behauptet, führte dieses Wahlrecht nicht zu einer stärkeren Zersplitterung der Parteienlandschaft. 1930 waren 13 Parteien im Parlament vertreten, berücksichtigt man die Spaltung der Sozialdemokraten in Sozialdemokraten und Kommunisten und die Spaltung des Zentrums in Zentrum und Bayerische Volkspartei, waren es sogar weniger Parteien als im Reichstag des Kaiserreichs.

Nicht die Zersplitterung der Parteienlandschaft war die fatale Folge des neuen Wahlrechts, sondern eine radikale Änderung des Verhältnisses von Wählervolk, Parteien und Abgeordneten. Die Abgeordneten konnten sich nun nicht mehr als Vertreter des Volkes verstehen, sie waren vielmehr Mandatare ihrer Partei, die sich wiederum nicht als Partei verstand, die eine definierte Ideologie verfolgte, sondern als Interessenvertreterin einer bestimmten Bevölkerungsgruppe. Dies war nicht immer schon so. Man unterstellte zwar den klassischen Parteien der Liberalen und Konservativen, daß sie Klassenparteien waren, sie waren es nach ihrem Selbstverständnis nicht.

Anders die modernen Parteien. Das 1870 gegründete Zentrum verstand sich explizit als Interessenvertretung der im Kaiserreich benachteiligten und unterdrückten Katholiken. Die ersten beiden Programmpunkt des berühmten - und im übrigen zukunftsweisenden - Soester Programms stellen klar, daß es den organisierten Katholiken explizit um sich selbst und um den "Proporz" ging, so Punkt 2. des Programmes. Für die weitere Entwicklung siehe Max Webers "Politik als Beruf", wo er explizit das Proporzdenken des Zentrums kritisiert. Die Sozialsten sahen sich schon von Anfang an als "Klassenpartei", und steckten andere Parteien, etwa die Linksliberalen der FVP - übrigens Bündnispartner der Sozis - mit diesem Denken an.

Der politischen Lebensweg Karl Friedrich von Savignys ist für diese Entwicklung symptomatisch. Ursprünglich Teil der konservativen preußischen "Kamarilla", dann Abgeordneter der Freikonservativen Partei im Parlament des Norddeutschen Bundes trat von Savigny1871 dem Zentrum bei, und übernahm dort bis zu seinem Tod führende Positionen. Von Savigny zu Ehren sollte man aber nicht unerwähnt lassen, daß die Katholiken des Reichs nur wenig Alternativen zur Bildung eines Schutzbundes hatten.

Die Parteien sahen nun die Wähler als "ihre" Wähler, und die Mandatsträger als "ihre" Mandatsträger, die man mit Abgaben an die Partei und im schlimmsten Fall sogar mit einem "imperativen Mandat" malträtieren durfte. Das Aufkommen einer Neuen Partei führt dann konsequenterweise zu massiven Protesten der bisherigen vermeintlichen Eigentümer. Es handelt sich schließlich um "Diebe". Die Brutalität, mit der eine bei Lichte betrachtet völlig unverdächtige nationalliberale Partei wie die AfD angegangen wird, hat ihre Ursache in der weitverbreitesten Todsünde der modernen Politik, dem Neid.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war nun das radikale Verhältniswahlrecht in Verruf geraten, doch die inzwischen wieder dem Mehrheitswahlrecht zugeneigte CDU konnte sich gemeinsam mit der konservativen DP gegen den traditionellen Block aus SPD, KPD und Linksliberalen nicht durchsetzen. Zunächst wählte man 1949 einen faulen Kompromiss: die personalisierte Verhältniswahl. 60% der Abgeordneten sollten in ihren Wahlkreisen direkt gewählt werden, 40% über Listen. Da aber die direkt gewonnenen Mandate wieder von der Gesamtzahl der nach Proporz ermittelten Mandate abgezogen wurden,  wirkte sich dieses Recht im Wesentlichen als Verhältniswahlrecht aus. Die Parteien behielten die Direktmandate, zunächst ohne Ausgleich eventueller "Überhangmandate". Ganze 2 "Überhangmandate" entstanden so 1949.

Der 17. Juni 1953 ist aus zwei Gründen ein Schicksalstag der Deutschen gewesen. zunächst wegen des von der sowjetischen Besatzungsmacht niedergeschlagenen Aufstands in der SBZ, sodann aber wegen der am gleichen Tag stattfindenden Debatte über das Bundestagswahlrecht für die Wahl 1953. CDU und DP schlugen in dieser Debatte ein sogenanntes "Grabenwahlrecht" vor, wonach ein Teil der Abgeordneten nach dem Prinzip der Mehrheitswahl, ein anderer Teil nach dem Prinzip der Verhältniswahl gewählt werden sollte. Der Vorschlag, der einen sinnvollen Kompromiss zwischen den Anhänger der Mehrheit- und Verhältniswahl dargestellt hätte, scheiterte. Stattdessen blieb es bei dem geradezu betrügerischen System der "personalisierten Verhältniswahl". Was dazu zu sagen ist, hat damals der fraktionslose Abgeordnete Freudenberg - noch immer zutreffend - zusammengefasst:
Ich kann nur noch einmal sagen, daß es meines Erachtens für die Demokratie und die demokratische Auffassung unerträglich ist, wenn wir der Bevölkerung vormachen, wir wählen die Abgeordneten in Wahlkreisen, während de facto nicht in Wahlkreisen gewählt wird, sondern die in Wahlkreisen gewählten Abgeordneten einfach auf den Proporz angerechnet werden. Entweder sollten wir den Mut haben, einen klaren und sauberen Proporz zu machen. Dann weiß die Bevölkerung, woran sie ist. Oder aber wir sollten ein klares Mehrheitswahlrecht machen; dann weiß sie auch, woran sie ist. Aber diese Verpanschung der Dinge miteinander muß dazu führen, daß das Ansehen der Demokratie in der Bevölkerung zum Teufel geht. 
Was zu beweisen wahr. Das allerhöchst komplexe System wurde in der Folge so weit verschlimmbessert, daß das BVerfG gleich mehrfach eingreifen mußte.

Der erfolgreiche Unternehmer Freudenberg war übrigens ein dezidierter Anhänger des Mehrheitswahlrechts und weigerte sich deshalb entschieden, auf der Liste der freidemokratischen DVP für den Bundestag zu kandidieren, die ihm eine "Absicherung" auf Listenplatz 2 (hinter Theodor Heuss) anbot. Stattdessen kandidierte er - mit Unterstützung der FDP/DVP - als unabhängiger Kandidat und gewann als einziger parteiloser Kandidat in der Geschichte des Landes seinen Wahlkreis direkt - mit weitem Abstand vor dem Nächstplazierten, einem CDU-Mitglied. 

Eine Diskussion über das künftige Wahlrecht ist überfällig. Daß es so nicht weiter gehen kann, zeigt das Ergebnis der Bundestagswahl 2017 und das elende Gewürge der Koalitionsverhandlungen, die stets davon ausgehen, daß unbedingt eine der Parteien der Linken, die mit weniger als 40% eine krachende Wahlniederlage erlitten hat, in die Regierung eingebunden werden muß. Das dumme Wahlvolk hat die Linke abgewählt. Aber unser Wahlrecht, verbunden mit der Begriffsstutzigkeit einer verkommenen Partitokratie, führt dazu, daß man sie partout wieder in die Regierung "einbinden" muß oder auf Biegen und Brechen einbinden will.

Wie wäre es denn, führten wir zunächst das romanische Mehrheitswahlrecht - nach dem Vorbild Frankreichs ein - um erst dann Neuwahlen durchzuführen? Man kann natürlich die Ergebnisse nicht voraussehen, aber doch, wenn man die Ergebnisse von Sept. 2017 zugrundelegt, vorausahnen.

Nach dem romanischen Mehrheitswahlrecht sind im ersten Wahlgang nur die Kandidaten gewählt, die die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht haben. In der Regel werden damit die meisten Wahlsieger erst im zweiten Wahlgang ermittelt. Am zweiten Wahlgang nehmen nur die Kandidaten teil, die im ersten Wahlgang mindestens 12,5% der Stimmen erzielt haben. Im zweiten Wahlgang gewinnt der Kandidat mit den meisten Stimmen.

Im zweiten Wahlgang schließen sich daher die Parteien des rechten oder des linken Lagers zusammen, um einem gemeinsamen Kandidaten zum Sieg zu verhelfen. Koalitionen - die kein Mensch wirklich liebt - müssen sich daher dem Wähler stellen, sie werden nicht in den Hinterzimmern der Partitokraten ausgekungelt.

Die Parteien selbst müssen sich - um den Preis des Untergangs - mit dem häufig gehaßten Konkurrenten zusammentun, auch dies ein durchaus heilsamer Zwangsmechanismus des Mehrheitswahlrechts, denn der böse Feind muß dann möglichst gestern noch schnell zum honorigen Konkurrenten geadelt werden.

In Deutschland könnte sich so mancher darüber freuen, daß die böse Nazi-Partei AfD plötzlich in der Sicht derer, die ihre Unterstützung brauchen, zu honorigen nationalliberalen Bruderpartei sich wandelte, was sie, von gewissen Quertreibern abgesehen, ja auch ist.

Spekulieren wir also einmal los:

Bayern: die ach so geschmähte und totgesagte CSU gewönne von den 45 bayerischen Wahlkreisen teilweise mit der Unterstützung der FDP, der man dann sagen wir mal zwei Wahlkreise "abgeben" müßte, 42 von 45 Wahlkreise, viele davon im ersten Wahlgang. Wahlergebnis: 42 CSU, 2, FDP, 1 SPD.

Sachsen: die CDU wäre ohne die Unterstützung der AfD chancenlos gegen ein rot-rot-grünes Bündnis. Das Wahlbündnis AfD/CDU aber könnte alle Wahlkreise bis auf einen gewinnen, der an die Linke geht. Wahlergebnis: 8 CDU, 7 AfD, 1 Linke. Und die absolute Königin der sächsischen AfD wäre ausgerechnet die mit überwältigendem Ergebnis direkt gewählte Frauke Petry. Kein Gedanke an Parteiaustritt, sondern das Fanal zum innerparteilichen Gegenangriff gegen die Zwergenfraktion.

Hessen: Auch hier würde sich die bürgerliche Mehrheit nur dann in Sitze ummünzen lassen, wenn die CDU mit der FDP und der AfD ein Wahlbündnis eingehen würde. Was spräche dagegen, die gediegen konservative katholische Spitzenkandidatin der AfD in ihrem Wahlkreis zu unterstützen? Dann schrumpften SPD und Grüne in diesem Land nahezu auf Null. Ergebnis; 14 CDU, 4 FDP, 1 SPD und 3 AfD.

Grüne: Wer glaubt, die Grünen verschwänden aus den Parlamenten, führten wir das Mehrheitswahlrecht in seiner französischen Variante ein, täuscht sich. In Baden-Württemberg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und in Berlin könnten die Grünen ihre Hochburgen verteidigen und zögen gleichzeitig geschrumpft und gestärkt in den Bundestag ein. Die 4 voraussichtlich gewählten baden-württembergischen Bundestagskandidaten wären gestandene Persönlichkeiten, die in der Lage waren, zum Beispiel in Stuttgart und Freiburg gegen die politische Konkurrenz zu bestehen. Sollte ich erwähnen, daß sie alle zum Realo-Lager gehören? Eigentlich überflüssig.

Nordrhein-Westfalen: Die SPD ist keineswegs zum Untergang geweiht, denn in diesem größten Bundesland könnte sie mit einiger Sicherheit 23 Direktmandate erreichen. Ergebnis: 30 CDU, 9 FDP, 23 SPD und 2 Grüne.

CDU/CSU hätten die Mehrheit mit 181 von 299 Sitzen. 139 der CDU und 42 der CSU. Aber es wäre doch eine Mehrheit in der die CSU ein erheblich größeres Gewicht hätte, Denn damit gehörten 23% und nicht nur 18% der CDU/CSU-Fraktion der CSU an. Die gewählten Parlamentarier der CDU müßten sich zudem deutlich machen, daß sie nicht selten nur mit Hilfe von AfD und FDP in das Parlament gelangt waren.

Die FDP wäre mit 26 Mandaten keineswegs schwach, die SPD wäre mit nur 50 Mandaten stark geschrumpft, aber dominiert von den Realpolitikern aus NRW, die da weniger die Oberlehrer als die Malocher repräsentieren. Die Grünen hätten mit 9 Direktmandanten neunmal mehr als bisher, und die Linke könnte mit 5 Mandaten sich darüber Gedanken machen, ob nicht doch der Kurs des absoluten Wahlsiegers Gysi der richtigere sein könnte. Die AfD könnte mit 27 Mandaten auf die Liberalen hinabblicken, wenn auch nur knapp, und auch in dieser Fraktion dominierten nicht die Rabauken, sondern die, die sich in der Öffentlichkeit und vor ihren eigenen Wählern Respekt verschaffen konnten.

Das Parlament wäre deutlich kleiner und sehr, sehr viel feiner. Man könnte sich auf brillante Debatten freuen und auf spannende Abstimmungen. Das unsägliche Partitokratenmillieu der untergehakten Unterdurchschnittlichen wäre Geschichte, die zweitklassigen Listenmandatare völlig ausgerottet.
Fraktionszwang und Kopfnickermentalität gehörten einer dunklen, dunklen Geschichte an.

Wir hätten endlich wieder ein Parlament.

Ach ja: Artikel 38 Absatz I, Satz zwei lautet: "Sie (die Abgeordneten) sind Vertreter des ganzen Volkes (und nicht ihrer Partei) an Aufträge und Weisungen (des Parteivorstands, der Fraktion, der Regierung) nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Als Student der Rechtswissenschaften mußte ich auf Anregung meines linksliberalen Professors, der uns öffentliches Recht lehrte, diesen Satz "problematisieren".

2 Kommentare:

  1. Dann hätte Baden-Württemberg bereits in der zweiten Regierungsperiode eine grüne Mehrheit im Landtag in Stuttgart und der ex-Kommunist Kretschmann würde als Alleinherrscher in der Villa Reitzenstein sitzen!

    Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein, ein Wahlrecht zu fordern, das den Roten, oder -worst case-!!! den Grünen die Mehrheit sichert!

    Zuerst Baden-Württemberg den Grünen zu Frasse vorwerfen und demnächst regieren in der Münchner Staatskanzlei die Sozis, wenn die CSU genau so wenig hinkriegt, wie Stephan Mappus, der es verbockt hat.
    Ihnen grausts wurklich vor gar nix, so was zu fordern, was Rote und Grüne in den Ländern an die Macht bringt und zuletzt womöglich gar im Reichstag.

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  2. Irrtum. Die möglichen Wahlergebnisse habe ich für Baden-Württemberg berechnet. Die Grünen könnten in gerade einmal 3 Wahlkreisen gewinnen, die weit überwiegende Mehrheit der Mandate ginge an CDU und FDP.

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